Eine Premiere bei dem diesjährigen Kongress war die gleichzeitige Durchführung mit dem lokalen Kongress der AC-Vereinigung in Südafrika. Dort ist die AC-Szene auf einem sehr hohen Niveau – das aktuelle Kongress-Format gibt es schon im 33. Jahr, es besteht eine große Beraterszene und der politische Umbruch sorgt für Nachfrage. Diese ist reguliert, so müssen sich die südafrikanischen Berater zu dem Kongress ein- und auschecken, um damit „Ethik-Punkte“ zu verdienen – als Voraussetzung für die Zulassung.
Trend E-Assessment
Mehrere Anbieter und Anwender stellen unter verschiedenen Marketing-Labels („AC 2.0“, „Virtual Assessment“) ihre Lösungen für webunterstütztes AC vor. Ein Treiber ist die Reduzierung von Reisekosten, speziell für große Gruppen von Hochschulabsolventen. Die EU-Vertreterin rechnet etwa vor, dass für die 5.000 Bewerber der EU jährlich über eine Million Euro an Reisekosten zu ersetzen sind. Ein Fazit aus dem Kongress ist, dass die Begeisterung der Anbieter noch kaum durch Studien substanziiert ist: Wird mit einem webbasierten AC das Gleiche gemessen? Wie können sozial-kommunikative Fähigkeiten adäquat eingeschätzt werden?
AC-Ergebnisse lassen sich auch auf Übungsebene interpretieren
Seit der ursprünglichen Untersuchung 1982 von Sackett & Dreher bestätigten immer wieder Studien die geringe Konstruktvalidität des AC: Ein und die selbe AC-Dimension führt meist über verschiedene Aufgaben hinweg zu unterschiedlichen Resultaten; es lassen sich keine stabilen Dimensionen finden. In letzter Zeit wird häufiger diskutiert, auf die Betrachtung von AC-Dimensionen gänzlich zu verzichten, da die Dimensionen über die Aufgaben hinweg nicht ausreichend stabil sind. Die Alternative wäre lediglich die Leistung in den einzelnen Aufgaben zu betrachten: Wie gut läuft das Mitarbeitergespräch? Wie wird die Fallstudie beherrscht? Weniger sinnvoll wäre das bei allgemeinen Potenzialanalyse-AC, durchaus jedoch bei AC für die Besetzung konkreter Jobs.
Brian Hoffmann von der University of Georgia ist einer der neueren aktiven Forscher in der AC-Szene und stellt eine neue Metaanalyse von Validitätsdaten vor.
Ein Ergebnis ist, dass tatsächlich auch die AC-Aufgaben – unabhängig von den Bewertungskompetenzen – valide für die Vorhersage von Berufserfolg sind. Gleichzeitig gilt dies auch für die AC-Dimensionen. Daher ist es praktisch sinnvoll, in der Entscheidung sowohl auf die Aufgabenmittelwerte als auch auf die Dimensionen zu schauen. Neu ist die Erkenntnis, dass es statistische Interaktionen von Aufgaben und Dimensionen gibt: In unterschiedlichen Aufgaben sind einzelne Dimensionen – selbst wenn sie formal gleich stark beobachtet werden – unterschiedlich relevant.
Neuropsychologie und neue Sichtweise auf Feedback
Aus Sicht der AC-Verantwortlichen ist Feedback ein „Geschenk“, von dem erhofft wird, dass der AC-Teilnehmer es mit Freude auspackt. Die Neuroforscherin Mary-Joe Emde untersucht das Thema aus neuropsychologischer Sicht. Wenn wir erfahren, dass uns jemand Feedback geben möchte, kommt bei uns eher der Gedanke: „Oh, was habe ich wohl falsch gemacht?“ – vielleicht verbunden mit einer Abwehrhaltung. Neuronal werden alle Situationen – wie die Ankündigung von Feedback – in der Amygdala („Mandelkern“) vielfach in der Sekunde auf mögliche Bedrohungscharakter untersucht. Die Verschaltung im Hirn ist so, dass die Amygdala schon Flucht- und Abwehrreaktionen einleitet, bevor im präfrontalen Cortex überhaupt angefangen wird nachzudenken und zu reflektieren. Emotionaler und sozialer Schmerz – ausgelöst durch Feedback – wird in bildgebenden Verfahren an der gleichen Stelle im Gehirn angezeigt wie körperlicher Schmerz. Die praktische Konsequenz ist, dass Feedback überhaupt erst dann ankommt, wenn die Amygdala auf grün schaltet, nämlich eine stabile, vertrauensvolle Beziehung von dem Feedbackgeber aufgebaut wurde.
Erste globale Studie zur weltweiten Anwendung des AC
Alyssa Gibbons & Dan Hughes stellen die Ergebnisse der ersten globalen Studie vor, in der weltweit 512 AC-Verfahren verglichen werden. Das AC als Methode ist mittlerweile in Ländern etabliert, an die man in diesem Zusammenhang kaum denkt, wie Indonesien oder ostafrikanische Länder wie Tansania. 23 % der AC finden international statt – in mehr als einer Sprache oder Nation. Befragt danach, wie die Verantwortlichen mit den interkulturellen Aspekten umgehen, kommen eher Klassiker wie die kulturspezifische Anpassung der Instruktion oder der Einsatz von Beobachtern mit entsprechender Vielfalt. Weltweit gibt es einen Trend, dass mehr HR-Vertreter die Beobachterrolle übernehmen – aus Sicht der Autoren kritisch zu sehen, wenn das Linienmanagement oder die Psychologen relativ außen vor bleiben. Ein kritischer Aspekt ist, dass in 77 % der 512 AC lediglich vier oder weniger Aufgaben eingesetzt werden – multiple Aufgaben und multiple Beobachter sind schließlich die Essenz des AC (mehr zu der globalen Studie im neuen Obermann Buch Assessment Center, 2013).
Bessere Verbindung Assessment und Entwicklungsaktivitäten
Die AC-Legende Bill Byham zeigt den bisher schlecht erfüllten Kundenbedarf auf, dass akkurat AC-Ergebnisse erhoben werden, diese jedoch nicht systematisch in Entwicklungsaktivitäten umgesetzt werden. Ein Vorschlag ist, speziell bei Development Center, auf die zu globalen AC-Dimensionen zu verzichten, die sich schlecht in Entwicklungsaktivitäten übersetzen lassen und stattdessen auf „Keyactions“ zu setzen. Diese sind in der Abstraktionsebene tiefer (z. B. „kann facettenreich argumentieren“ oder „kann sich entscheiden und positioniert sich“). Entwicklungsbedarfe auf der Ebene dieser „Keyactions“ lassen sich gezielter mit Trainingsaktivitäten angehen. Dabei gilt immer noch die 10/20/70–Regel: 10 % der Entwicklungsaktivitäten durch Training, 20 % durch eine Umsetzung on-the-job (z. B. Vorgesetztenfeedback) und 70 % durch eigene Aktivitäten am Arbeitsplatz.
Daniel Pichl von Siemens stellt dazu einen interessanten Ansatz vor. Nach dem DC gibt es zwei geplante Folgeworkshops: Ein Trainingsevent und ein Entwicklungsworkshop, in dem mit den Teilnehmern besprochen wird, wie die Erkenntnisse umgesetzt werden und wer bei der Umsetzung helfen könnte.
Analytisches Denken und Extraversion sind die Kernaspekte im AC
Brian Hoffmann stellt eine weitere Studie zur Frage vor, welche Dimensionen im AC bedeutsam sind. In einer konfirmatorischen Faktorenanalyse lassen sich die AC-Leistungen auf zwei Komponenten reduzieren: Mit analytischen Fähigkeiten und Intelligenz stehen nahezu alle AC-Leistungen im Zusammenhang. Der zweite starke Faktor ist Extraversion, also Überzeugungswirkung, Führung und Dominanz. Überraschend für Hoffmann ist, dass sich kein Faktor finden lässt, der Aspekte wie Kooperationsfähigkeit oder Teamverhalten umfasst – möglicherweise ein blinder Fleck im AC. Die praktische Empfehlung für das AC ist, auf die Vielzahl von AC-Dimensionen zu verzichten und unterhalb der Komponenten Analytisches Denken und Extraversion lediglich einige Unterdimensionen zu differenzieren.
Ethik im Assessment Center
Aus deutscher Perspektive möglicherweise weniger relevant, spielt das Thema Ethik generell und auch im AC eine große Rolle. Hohe Aufmerksamkeit hatte der Vortrag des lokalen „Ethik-Gurus“ Gert Roodt von der Universität Johannesburg. Generell wird Ethik definiert als das, was im gleichen Umfang dem Selbst (oder der eigenen Gruppe) und „den Anderen“ gut tut. Die Anderen sind alle Stakeholder, die mit dem Thema zu tun haben könnten. Im AC gibt es viele ethische Risiken, z. B. wenn der ursprüngliche Auftrag war, Entwicklungsempfehlungen für Teilnehmer in einem DC abzuleiten und der Auftraggeber dann plötzlich ein Teilnehmer-Ranking erbittet. Zu einem solchen Fallbeispiel hatten die lokalen Teilnehmer des AC-Kongresses eine Fallstudie zu bearbeiten, deren richtige Lösung dann „Ethikpunkte“ erbrachte. Indizien für ethische Risiken sind Aussagen wie „Das haben wir immer so gemacht“, „Hierzu brauchen wir juristischen Rat“ oder „Sie können das machen, aber bitte nicht meinen Namen erwähnen“. Ein praktischer Hinweis ist, mit den beteiligten Stakeholdern vorab Absprachen zu treffen, um nicht im Nachhinein in ethische Konflikte hineingezogen zu werden.