Das Lernpotenzial-AC ist seit mittlerweile mehr als zwanzig Jahre auf dem Markt (Obermann, 1992, 2017). Die Kernidee besteht darin, AC-Aufgaben im Rahmen eines AC wiederholt durchzuführen und den Teilnehmern eine Lernmöglichkeit zu schaffen, z. B. durch Peer-Feedback, Zwischenfeedback der Beobachter oder die Möglichkeit, das eigene Vorgehen am Video zu betrachten. Das Konzept kann in zweierlei Hinsicht ausgewertet werden. Einerseits besteht die Hoffnung, das „wahre Potenzial“ zu entdecken. Aus der Tatsache, dass ein AC-Teilnehmer – wie beim klassischen Vorgehen – spontan nicht die erwartete Leistung in dem für ihn neuen Fallbeispiel Mitarbeitergespräch zeigt, kann nicht zwangsläufig auf ein mangelhaftes Vermögen geschlossen werden, das geforderte Verhalten später erlernen zu können (Potenzial). So könnte z. B. lediglich das (schlechte) Vorbild des eigenen Vorgesetzten abgebildet werden, obwohl der Teilnehmer die erwarteten Kompetenzen durchaus in seinem Verhaltensrepertoire hat.
Veränderungsfähigkeit als Schlüsselkompetenz
Ein weitergehender Ansatz besteht darin, das Delta zwischen der ersten und zweiten Aufgabe diagnostisch zu nutzen. Das wäre das Lern- oder Veränderungspotenzial, bescheidener: die Fähigkeit, Feedback umzusetzen. Da zum Zeitpunkt des ACs die zukünftigen Herausforderungen Teilnehmer und Arbeitgeber nicht zwangsläufig bekannt sind, ist die Lern- oder Veränderungsfähigkeit ein wichtiger Faktor für die Vorhersage von zukünftigem Berufserfolg – Wer hat etwa vor zehn Jahren etwas von Social Media, Diversity Management oder Compliance gehört?
Historische Grundlage: Idee der Lerntests aus der ehemaligen DDR
Die methodische Grundlage bildet der von Guthke (1988, 1991) entwickelte Ansatz der Lerntests. Die Kernidee dieses Ansatzes besteht darin, den Versuchspersonen mehrfach einen Test vorzugeben, und dazwischen ein Training oder eine andere pädagogische Einflussnahme einzubauen. Gegenüber der klassischen Testdiagnostik stehen damit zusätzliche Informationen zur Verfügung: Der Testwert 2 und die Differenz zwischen Testwert 1 und 2 (Lerngewinn). In verschiedenen Untersuchungen, insbesondere in der ehemaligen DDR, konnte nachgewiesen werden, dass der Testwert 2 und der Lerngewinn speziell im Bereich der Intelligenzdiagnostik im pädagogischen Bereich eine höhere Validität besaß – etwa bei der Vorhersage von Schulerfolg – als der Testwert 1 allein. Die Lerngewinne erwiesen sich als relativ unabhängig von Testwert 1, so dass mit dem Lerngewinn ein substanziell neuer Faktor für die Vorhersage von Lernfähigkeit erfasst wird.
Erste Studien zum Lernpotenzial-AC
In den Jahren 1991 bis 1994 wurde eine erste Validitätsstudie zum Lernpotenzial-AC durchgeführt (Obermann 1994). Die Studie umfasste insgesamt 151 Teilnehmer aus Potenzialanalyse-ACs bei Banken und Versicherungen. Dabei konnten die Veränderungen zwischen einer Kontrollgruppe und einer Gruppe mit Zwischenfeedback in den beiden Mitarbeitergesprächen verglichen werden. Der durchschnittliche Lerngewinn der Teilnehmer betrug auf einer 5-er Skala 1,20 (s = 0.84). Hierbei gab es deutliche interindividuelle Unterschiede – der schwächste Teilnehmer verschlechterte die Leistung leicht mit 0,33 Punkten auf der 5-er Skala, während der beste Teilnehmer sich nach Feedback und Training immerhin um 3,3 Punkte steigerte. Damit zeigte sich zunächst, dass durch relativ geringe Interventionen im Rahmen einer Prozessdiagnostik (interindividuell unterschiedliche) Leistungssteigerungen erzielbar sind, die vom statusorientierten AC nicht erfasst werden.
Validitätserhöhung des klassischen ACs durch den Lernansatz
Für einen Teil der Teilnehmer in der Studie wurde zusätzlich eine externe Validitätseinschätzung (Kriterium Beförderung nach mindestens zwei Jahren: Ja/Nein) vorgenommen. Für den klassischen AC-Gesamtwert zeigte sich dabei ein Zusammenhang von r = 0.35, somit im Bereich der Metaanalysen (Gaugler et al. 1987). Durch die Hinzunahme des Lernzuwachses zwischen Messung 1 und 2 konnte der Zusammenhang zur Beförderung auf 0.48 gesteigert werden (Obermann 1994). So lässt sich das externe Kriterium der späteren Beförderung durch ein Lernpotenzial-AC besser vorhersagen als durch ein klassisches AC-Verfahren. Die Lerngewinne zwischen den beiden Messungen enthalten offensichtlich neue Informationen beziehungsweise Varianzanteile, die nicht in den statischen AC-Daten beinhaltet sind.
Methodische Herausforderungen
Den offensichtlichen Vorteilen stehen methodische und praktische Herausforderungen entgegen: Für Teilnehmer mit deutlich positiven oder negativen Einschätzungen dürfte es schon aus statistischen Gründen (Regression zur Mitte) Veränderungen geben, die inhaltlich mit Lernveränderungen verwechselt werden können.
Eine weitere Frage ist, was die Veränderungen zwischen Messung 1 und 2 inhaltlich bedeuten. Die Psychologie definiert Lernen als dauerhafte Verhaltens- oder Einstellungsänderung. Im AC kann jedoch eher von einer „Anpassung auf ein Feedback“ gesprochen werden. Ob die Lernleistungen stabil sind, kann schwer beurteilt werden.
Eine ökonomische Einschränkung des Lern-AC besteht darin, dass bei begrenzten Ressourcen die Wiederholungsübung eine andere, möglicherweise auch wertvolle, Aufgabe verdrängt.
Aktuellere Studien zum Lernpotenzial-AC
Das Konzept des Lernpotenzial-AC wurde seit Mitte der 90er Jahre nunmehr von einigen Autoren und Beratern aufgegriffen, sowie Erfahrungen im deutschsprachigen Bereich beschrieben (Hübbe 1999; Sarges 2000; Ochmann & Röhr 2001). In der AC-Umfrage von 2001 (Krause et al.) geben immerhin 9 % der 141 befragten Unternehmen an, dass sie mit der Variante des Lernpotenzial-AC arbeiten.
Aktuellere Studien zum Lernpotenzial-AC konzentrieren sich auf den Feedback- und Lernprozess innerhalb des Settings. Kolleker (1999) hat den klassischen Ablauf dahingehend variiert, dass die Teilnehmer die erhaltenen Rückmeldungen nach AC 1 mit der Selbsteinschätzung vergleichen und dann eine erneute Bewertung des eigenen Verhaltens vornehmen, sowie sich für das AC 2 schließlich eigene Lernziele setzen. Dieser lernförderliche Feedbackprozess erweist sich als dem klassischen Feedbackprozess im AC überlegen.
Vorsatzbildung verbessern die Lerngewinne
Schnelle (2004) greift speziell den Aspekt der Lernintention oder Vorsatzbildung auf. In einem experimentellen Design konnte sie nachweisen, dass die Lernleistung höher ausfällt, wenn Zielintentionen formuliert und um einen Vorsatz für die Durchführung des AC 2 ergänzt werden. Diese Vorsatzbildung hilft insbesondere schwächeren Teilnehmern. In einer darauf aufbauenden Untersuchung differenzierte Hohenberger (2004) zwischen negativ formulierten Vorsätzen (z. B. „Ich will nicht eine so schlechte Gesprächsatmosphäre kreieren“) und positiv formulierten Vorsätzen. Dabei zeigten die Ergebnisse, dass es bei solchen Teilnehmern mit negativen Zielformulierungen zu schwächeren Lernleistungen kam als bei den übrigen Teilnehmern.
Antizipation von Lernhindernissen
In ihrer Untersuchung zum Thema gehen Stangel-Meseke et al. (2005) in der Umsetzung der Vorsatzbildung noch einen Schritt weiter: Mit Hilfe eines Formular sollen die Teilnehmer ihr Lernziel präsentierten und Umsetzungsschwierigkeiten antizipieren: Wie lautete mein Lernziel? In welcher Situation treten Schwierigkeiten auf, die mich daran hindern, das Lernziel zu erreichen? Welche Strategien habe ich, um mit den auftretenden Schwierigkeiten umzugehen? Diese ausgefüllten Formulare wurden den Teilnehmern vor dem – nach zwei Wochen stattfindenden – AC-Durchlauf vorgelegt. Die Ergebnisse ergaben signifikante Pre-Post-Effekte hinsichtlich der Lernleistung und der über einen Fragebogen erhobenen Lernfähigkeit. Die angenommene Interaktion mit der erfolgreichen Vorsatzbildung (erhoben über eine Selbsteinschätzung: „Vorsatz eher gelungen/nicht gelungen“) konnte jedoch nur zum Teil nachgewiesen werden: positiv für den Pre-Post-Effekt im Lernfähigkeitsfragebogen, nicht jedoch für die Lernleistung selbst. Die Autoren erklären dies mit der Komplexität der untersuchten Lernleistung (Dimension bereichsübergreifendes Denken) und der langen Dauer von zwei Wochen zwischen Vorsatzbildung und zweitem AC.
Lerneffekte am Arbeitsplatz noch nicht messbar
In einem eintätigen Lernpotenzial-AC konnte die amerikanische AC-Forscherin Deb Rupp (2004) ebenfalls die Lerneffekte zwischen Pre- und Posttest nachweisen. Zusätzlich wurden hier anschließend nach dem AC Mitarbeiter und Vorgesetzte der Teilnehmer aus dem mittleren Management nach Lernveränderungen am Arbeitsplatz befragt. Dies ergab keinen der angenommenen Effekte. Allerdings waren die Befragten weder in irgendeiner Form geschult, noch von der AC-Teilnahme der Kollegen informiert. Somit kann auch das Lernpotenzial-AC wohl keine Wunder bewirken. Möglicherweise zeigen sich hier jedoch die Grenzen der individuellen Veränderungsfähigkeit, was dem klassischen AC wieder zuspielen würde.