Ein neues Leitmodell für die Führungskräfte-Entwicklung
Der psychologische Kontrakt beschreibt die wechselseitigen Verpflichtungen zwischen Mitarbeiter und Organisation bzw. Mitarbeiter und Führungskraft und die erlebte Qualität ihrer Beziehung. Psychologische Kontrakte können eher nutzenorientiert oder eher partnerschaftlich verfasst sein. Je größer die partnerschaftliche Qualität, desto größer die Bereitschaft des Mitarbeiters, sich freiwillig für die Interessen der Organisation zu engagieren. Für Vorgesetzte ergibt sich die Herausforderung, psychologische Kontrakte aktiv zu gestalten. Dies insbesondere in Veränderungsprozessen. Denn in solchen kommt es regelmäßig zu Verletzungen der psychologischen Kontrakte betroffener Mitarbeiter.
Führung umfasst zwei Kernaufgaben: Mitarbeiter steuern und Mitarbeiter binden (Solga & Ryschka, 2013). Es gilt, Mitarbeiter durch Ziele, Feedback/Beurteilung und Anreize im Sinne der Ergebnis- und Verhaltenserwartungen zu steuern. Seit einiger Zeit wird der Begriff ‚Performance Management‘ verwendet, um diesen Aspekt hervorzuheben. Gleichzeitig gilt es – dies ist die zweite Kernaufgabe – die erlebte Bindung von Mitarbeitern an die Organisation, ihre Ziele und Werte, zu fördern.
Beide Funktionen müssen einander ergänzen und in Balance sein. Denn organisationale Bindung ist das Fundament, auf dem wir hohe Leistungsanforderungen akzeptieren und bereit sind, über die Erfüllung vertraglicher Pflichten hinauszugehen. Zugleich hat bindungsorientiertes Führungsverhalten (z.B. Wertschätzung zeigen, Unterstützung anbieten) keine Höchstleistungen zur Folge, wenn nicht zugleich Ziele, Feedback/Beurteilung und Leistungsanreize für Orientierung und Aktivierung sorgen.
Wir nutzten das Konzept des psychologischen Kontrakts, um die zweite Kernaufgabe – Mitarbeiter binden – zu beleuchten und in ihrer Wichtigkeit verständlich zu machen. Das Konzept ist in besonderer Weise geeignet, den negativen Einfluss zu beschreiben, den organisationale Veränderungsprozesse auf das organisationale Commitment von Mitarbeitern haben. Darin liegt seine besondere Stärke. Das Konzept des psychologischen Kontrakts ist also in besonderer Weise ein Leitmodell zum Thema ‚Führen von Mitarbeitern im organisationalen Wandel‘.
Was genau sind psychologische Kontrakte?
Es handelt sich dabei nicht um Verträge im rechtlichen Sinne. Vielmehr umfasst der Begriff die Sicht eines Mitarbeiters auf die wechselseitigen Verpflichtungen seines Arbeitsgebers bzw. Vorgesetzten und seiner selbst (siehe Abbildung 1; Conway & Briner, 2005, 2009).
Diese Verpflichtungen ergeben sich aus expliziten Absprachen zwischen Mitarbeiter und Führungskraft. Der Kontrakt entsteht, wenn beide über ihre wechselseitigen Erwartungen sprechen. Die Inhalte des Kontrakts können aber auch durch Beobachtung zustande kommen. Und oft genug beinhaltet er Dinge, die aufgrund irgendwelcher Vorerfahrungen bzw. Vorannahmen einfach erwartet werden.
Der psychologische Kontrakt besteht aber nicht nur aus zugeschriebenen Verpflichtungen. Er beinhaltet auch das Erleben von Beziehungsqualität. In diesem Zusammenhang lassen sich zwei unterschiedliche Arten psychologischer Kontrakte unterscheiden, ökonomische und partnerschaftlich orientierte (Conway & Briner, 2005). Im Falle eines nutzenorientierten Kontrakts erleben wir die Beziehung zur Organisation bzw. zur Führungskraft als ein Zweckbündnis von begrenzter Dauer. Die Verwirklichung eigener Interessen steht im Mittelpunkt, die emotionale Beteiligung ist gering. Die wechselseitigen Rechte und Pflichten sind klar und eindeutig definiert. Die Inhalte des Kontrakts basieren überwiegend auf einfachen, klar umgrenzten, expliziten Vereinbarungen. Im Falle eines partnerschaftlichen Kontrakts erleben wir eine langfristige Partnerschaft, in der die Interessen des Gegenübers ebenso wichtig sind wie die eigenen Interessen. Die Beziehung hat einen hohen emotionalen oder gar ideellen Wert. In ihr geht es nicht bloß um den Austausch fasslicher, geldwerter Leistungen – Respekt, Wertschätzung, Anerkennung, Dazugehörigkeit, Verantwortung und Sinn spielen eine große Rolle. Die wechselseitigen Rechte und Pflichten sind weniger klar definiert und werden seltener offen diskutiert und erörtert – der Kontrakt enthält viele implizite Elemente. Ferner besteht Vertrauen in einen langfristigen Ausgleich von Geben und Nehmen; deshalb können eigene Bedürfnisse kurzfristig zurückgestellt werden, weil es dem Wohl des Partners dient.
Warum ist diese Unterscheidung von Bedeutung?
Partnerschaftliche Kontrakte sind eine wichtige Vorbedingung für freiwilliges Arbeitsengagement (McLean Parks & Kidder, 1994; Schalk & Roe, 2007). Mitarbeiter mit partnerschaftlichen Kontrakten sind in besonderer Weise dazu bereit, sich eigenverantwortlich für die Interessen der Organisation stark zu machen, härter und gewissenhafter zu arbeiten als verlangt (also die sprichwörtliche Extrameile zu gehen), sich partnerschaftlich abzustimmen, Kollegen zu unterstützen und sich für ein gutes Betriebsklima einzusetzen. Daraus ergibt sich eine wichtige Handlungsempfehlung für Führungskräfte: Es gilt, partnerschaftliche Kontrakte zu pflegen und zu erhalten! Und es gilt, nutzenorientierte Kontrakte in partnerschaftliche zu überführen!
Wir nehmen den psychologischen Kontrakt als verletzt oder gebrochen wahr, wenn die Organisation oder unsere Führungskraft aufhören, die Verpflichtungen einzulösen, die wir ihr zuschreiben. In der Folge erleben wir ein Ungleichgewicht von Geben und Nehmen zu unseren Lasten. Erlebte Kontraktverletzungen sind besonders wahrscheinlich,
- wenn die Organisation ihre Leistungsanforderungen erhöht, ohne eine Kompensation anzubieten;
- wenn Ressourcen und Belohnungen neu verteilt werden und wir dabei das Nachsehen haben;
- oder wenn in Veränderungsprozessen (Restrukturierungen, Fusionen etc.) angestammte Privilegien, Handlungsspielräume und Einflussbereiche beschnitten werden.
Eine unmittelbare Folge erlebter Kontraktverletzungen besteht darin, dass Mitarbeiter ihren psychologischen Kontrakt neu bewerten und ggf. ‚de-qualifizieren‘ (McLean Parks & Kidder, 1994) – dann wird aus einem partnerschaftlichen Kontrakt ein nutzenorientierter („Das lasse ich mir nicht bieten! Ab morgen mache ich Dienst nach Vorschrift!”; Abbildung 2). Die Beziehung zur Organisation verschlechtert sich.
In diesem Sinne konnten zwei Metaanalysen zeigen, dass das erlebte Ausmaß des Kontraktbruchs hoch mit Misstrauen, Arbeitsunzufriedenheit, Reduzierung organisationalen Commitments und Kündigungsabsichten einhergeht (Bal, Lange, Jansen & van der Velde, 2008; Zhao, Wayne, Glibkowski & Bravo, 2007). Um das Gleichgewicht von Geben und Nehmen wieder herzustellen, reagieren wir auf erlebte Kontraktverletzungen mit einer Reduzierung unseres freiwilligen Arbeitsengagements (Kollegen unterstützen … siehe oben) und auch der auftragsgemäßen Arbeitsleistung (Rebalancieren; McLean Parks & Kidder, 1994). Außerdem konnten wir in einer eigenen Studie zeigen (Solga & Zettler, in Druck), dass erlebter Kontraktbruch kontraproduktives Verhalten zur Folge hat. Als kontraproduktiv werden alle Verhaltensweisen bezeichnet, durch die die Organisation als Ganze oder einzelne Personen in ihr absichtlich geschädigt werden (Leistung zurückhalten, Geheimnisse verraten, Diebstahl, Mobbing etc.). Kontraproduktives Verhalten kann als ein Versuch interpretiert werden, das Gleichgewicht von Geben und Nehmen durch einen Akt der Vergeltung wiederherzustellen („Wie du mir, so ich dir!“).
Wir betrachten das aktive Gestalten psychologischer Kontrakte mit dem Ziel, Mitarbeiterbindung zu sichern und zu fördern, als eine Schlüsselaufgabe von Führung im organisationalen Alltag, insbesondere aber in Veränderungsprozessen. Wir haben unterschiedliche Strategien entwickelt, mit denen sich das Risiko einschränken lässt, psychologische Kontrakte zu beschädigen. Andere Strategien sind dazu geeignet, bereits erlebte Kontraktverletzungen zu bearbeiten. Der Ort, an dem sich diese Strategien bestens umsetzen lassen, ist das Mitarbeitergespräch.
Eine dieser Strategien sei im Folgenden kurz ausgeführt. Das macht allerdings einen Exkurs ins Thema ‚Fairness im Arbeitsleben‘ notwendig: Im Arbeitsleben lassen sich vier unterschiedliche Bereiche erlebter Fairness unterscheiden (Maier, Streicher, Jonas & Woschée, 2007):
- distributive Fairness (Verteilungsgerechtigkeit): Hier geht es um die Verteilung von Belohnungen (Dinge, die wir für geleistete Arbeit erhalten) und Ressourcen (Dinge, die wir benötigen, um erfolgreich arbeiten zu können: Ausrüstung, Entscheidungsspielräume etc.). Wir erleben die Verteilung von Belohnungen als fair, wenn sie sich an der tatsächlich erbrachten Leistung orientiert. Und wir erleben die Verteilung von Ressourcen als fair, wenn sie sich am aufgabenspezifischen Bedarf orientiert.
- prozedurale Fairness: Hier geht es um Entscheidungsprozeduren. Diese erleben wir dann als fair, wenn 1. wir als Betroffene mitgestalten können (indem wir Gelegenheit bekommen, unsere Meinungen, Gefühle, Wünsche und Interessen zu äußern); 2. der Entscheider unvoreingenommen handelt (d. h. allparteilich bleibt und niemanden ungerechtfertigt bevorzugt); 3. von Mal zu Mal immer dieselben Entscheidungskriterien zur Anwendung kommen; 4. Fehlentscheidungen korrigierbar sind.
- informationale Fairness: Hier geht es um den Umgang mit Informationen im Zuge von Entscheidungsprozeduren. Informationale Fairness bedeutet: Betroffene werden angemessen informiert und mit Erklärungen versorgt. In diesem Sinne müssen Entscheidungen rechtzeitig, transparent, nachvollziehbar und bedürfnisgerecht angekündigt und begründet werden.
- interpersonale Fairness: Hier geht es um das persönliche Miteinander. Interpersonale Fairness bedeutet: Wir fühlen uns mit Respekt und Würde behandelt. Der Gesprächspartner oder Entscheider zeigt Wertschätzung, Verständnis und Mitgefühl.
Die erlebte Verletzung des psychologischen Kontrakts lässt sich mit Blick auf diese vier Bereiche als ein Verstoß gegen distributive Fairness beschreiben: Wir erhalten eine erwartete (versprochene) Belohnung oder Ressource nicht – das Gleichgewicht von Einsatz und Ertrag bzw. Leistung und Gegenleistung gerät ins Wanken.
Die Wahrscheinlichkeit, dass wir erlebte Verteilungsungerechtigkeit und also Verletzungen des psychologischen Kontrakts akzeptieren können und darauf verzichten, unsere Leistung zu reduzieren und durch kontraproduktives Handeln Vergeltung zu üben, steigt, wenn wir erleben, dass sich die Organisation und insbesondere die direkte Führungskraft ins besonderer Weise darum bemühen, prozedural, informational und interpersonell fair zu handeln (siehe Abbildung 3; Barclay, Skarlicki, & Pugh, 2005; Kickul, 2001; McLean Parks & Kidder, 1994)!
Es resultiert ein interessantes Entwicklungsprogramm für Führungskräfte, das wir sowohl in Trainings als auch – eher reflexionsorientiert – in Coachings umsetzen: die Führungskraft als Gestalter psychologischer Kontrakte. Ein solches Programm kann in besonderer Weise zur Vorbereitung auf das Thema ‚Führen im organisationalen Wandel‘ dienen.
Unsere Leistungen
- Trainingsprogramme und Coachings zu den Themen ‚Mitarbeiterbindung fördern‘ und ‚Die Führungskraft als Gestalter psychologischer Kontrakte‘
- Trainingsprogramme und Coachings für Führungskräfte, die schwierige Veränderungsprozesse managen müssen – Leitfrage: Wie lässt sich die Verletzung psychologischer Kontrakte verhindern oder konstruktiv bearbeiten?
Literatur
- Bal, P. M., Lange, A. H. de, Jansen, P. G. W. & van der Velde, M. E. G. (2008). Psychological contract breach and job attitudes: A meta-analysis of age as a moderator. Journal of Vocational Behavior, 72, 143–158.
- Barclay, L. J., Skarlicki, D. P. & Pugh, S. D. (2005). Exploring the role of emotions in injustice perceptions and retaliation. Journal of Applied Psychology, 90, 629–643.
- Conway, N. & Briner, R. B. (2005). Understanding psychological contracts at work. A critical evaluation of theory and research. Oxford, UK: Oxford University Press.
- Conway, N. & Briner, R. B. (2009). Fifty years of psychological contract research: What do we know and what are the main challenges? In G. P. Hodgkinson & J. K. Ford (Eds.), International review of industrial and organizational psychology, Vol. 24 (pp. 71–130). Chichester, UK: Wiley-Blackwell.
- Kickul, J. R. (2001). When organizations break their promises: Employee reactions to unfair processes and treatment. Journal of Business Ethics, 29, 289–307.
- McLean Parks, J. & Kidder, D. L. (1994). “Till death us do part …” Changing work relationships in the 1990s. In C. L. Cooper & D. M. Rousseau (Eds.), Trends in organizational behavior, Vol. 1 (pp. 111-136). Chichester: Wiley.
- Schalk, R. & Roe, R. E. (2007). Towards a dynamic model of the psychological contract. Journal of the Theory of Social Behaviour, 37, 167–182.