Was ist eigentlich Potenzial? Erkenntnisse aus der Psychologie

In der Personalpraxis Tätige werden häufig mit der Frage konfrontiert: „Was meinen Sie, hat er/sie Potenzial?“. Die Gegenfrage „Potenzial wozu oder für was?“ wird meist mit Stirnrunzeln beantwortet. Im Folgenden daher zunächst eine begrifflicher Klärungsversuch von Potenzial: Potenzial geht über die Frage der aktuellen Leistung hinaus (lateinischer Wortstamm Potenzia = das Vermögen, die Kraft). Der Potenzialbegriff beinhaltet einmal den Zukunftsaspekt: Auf welches Leistungsniveau kann ein Mitarbeiter aufgrund seiner grundlegenden Fähigkeiten zukünftig kommen? Der zweite Aspekt des Potenzialbegriffs bezieht sich auf die Übertragbarkeit und die Generalisierbarkeit der Leistung auf andere Aufgabentypen und Herausforderungen: In welchen anderen Situationen kann ein Mitarbeiter noch ein bestimmtes Leistungsniveau zeigen?

In der Personalpraxis hat die Unterscheidung der Potenzialanalyse von der Leistungsfeststellung dann eine große Bedeutung, wenn Ziel- und aktuelle Position weiter entfernt sind: Hat er auch Führungspotenzial? Könnte sie auch eine größere Abteilung führen? Würde er auch im Ausland Erfolg haben? Wie wird sich der jugendliche Azubi noch entwickeln können? Die Potenzialfrage ist also die Analyse des zukünftigen oder in anderen beruflichen Aufgaben vorhandenen Leistungsvermögens, das jedoch jetzt noch nicht vorhanden sein muss.

In der Managementpraxis hat sich in der Potenzialbetrachtung das Vierfelder-Schema der BCG Boston Consulting Group eingebürgert, in der zum Marktwachstum die Analogie Potenzial und zum Marktanteil die Analogie Leistungsniveau gewählt wird. In Management-Audits werden dann die Kandidaten häufig in die wenig schmeichelhafte Kategorien: „Dead horse“ (keine Leistung, kein Potenzial) und die Kategorie „Star“ (hohe Leistung, hohes Potenzial) eingeteilt. Was jedoch Potenzial im Detail von Leistung unterscheidet, wird damit nicht beantwortet.

So entstehen folgende Fragen: Ist Potenzial eine lineare Fortsetzung von Leistung, i. S. von Potenzial = Leistung plus x? Wie hoch/anders ist das individuelle Potenzial in Abgrenzung zur Leistung? Welche Faktoren sind es, mit denen Potenzial vorhergesagt werden kann, z. B. Intelligenz, Persönlichkeit, Motivation? Was ist genetisch vorbestimmt, und was kann überhaupt durch betriebliche Maßnahmen – sei es „on-the-job“ oder „off-the-job“ – beeinflusst werden? Gibt es ein kritisches Alter, ab dem ein Mensch geformt ist?

Intelligenz mit 11 Lebensjahren und 60 Jahre später

Eine wesentliche Klärung der Potenzialfrage wären Längsschnittuntersuchungen. Wenn man zum Lebensalter x ein Leistungsvermögen erheben würde, und dann Jahre später ein Leistungsvermögen y, dann käme diese Entwicklungsbandbreite einer wesentlichen Facette des Potenzialbegriffs sehr nahe.

Eine faszinierende neue Quelle dafür ist das Scottish Mental Survey: Im Lebensalter von 11 wurden in Schottland in den Jahren 1932 und 1947 70.000 Personen auf ihre Intelligenz getestet (Deary at al., 2006). Die Daten wurden 60 Jahre später wieder entdeckt und 1.500 der Personen konnten wieder aufgespürt werden. Diese haben nach all den Jahren den gleichen Intelligenztest wieder gemacht. Zwischen beiden Messungen besteht ein aufgrund Varianzeinschränkung korrigierter Zusammenhang von r = 0.73. Dies ist ein sehr hoher Wert; Retestwerte wenige Wochen nach der Ersterhebung haben kaum höhere Ergebnisse. Das bedeutet, dass es sich bei Intelligenz um ein extrem stabiles Konstrukt handelt, und das zukünftige Potenzial also in hohem Maße gleich ist mit dem früheren Intelligenzniveau: Nur Wenige kommen im Leben intelligenter an als sie gestartet sind.

Neue Erkenntnisse aus der Zwillingsforschung – wie viel ist angeboren?

Wenn die Fähigkeiten im Wesentlichen angeboren sind, dann reduziert sich die Potenzialfrage darauf, das momentane Leistungsniveau in den wesentlichen Grundfaktoren festzustellen. Das Ergebnis solcher Intelligenz-Studien ist etwa, dass eineiige Zwillinge, die zusammen aufgewachsen sind, über eine Intelligenz-Korrelation von 0.88 verfügen, solche die separat aufwuchsen von 0.75. Nicht verwandte Kinder, die zusammen aufwachsen, haben eine Intelligenz-Korrelation von nur 0.17 (Loehlin, Lindzey, and Spuhler, 1975). Dies indiziert einen hohen Einfluss genetischer Komponenten auf den IQ.

Einen innovativen neuen Weg gehen die Bielefelder Forscher um Angleitner et al. (2004). Die bisherigen Zwillingsuntersuchungen beruhen weitestgehend auf Selbsteinschätzungen und Intelligenztests. Die methodische Innovation der Studie ist jedoch, dass 300 gleichgeschlechtliche Zwillingspaare im Alter von 18-70 Jahren für jeweils einen Tag nach Bielefeld eingeladen wurden, um diese insbesondere zu beobachten. Zum Beispiel erfassten sie die Anzahl von Kommentaren oder Fragen während einzelner Aufgaben.

Bei der Auswertung lassen sich die Situationen einzeln oder zusammengefasst betrachten. Eine Schätzung der genetischen und Umwelteinflüsse ergibt sich nach Zusammenfassung der Persönlichkeitseinschätzungen aus sämtlichen Testsituationen. Diese beruhen auf insgesamt 60 Beurteilern pro Zwilling sowie einer großen Bandbreite von Verhaltensdemonstrationen. Es zeigte sich, dass die Unterschiedlichkeit (Gesamtvarianz) über alle Persönlichkeitsmerkmale zu 42 Prozent durch genetische Einflüsse, zu 18 Prozent durch Einflüsse der geteilten Umwelt und zu 35 Prozent durch Einflüsse der spezifischen Umwelt erklärt wird. Die geteilte Umwelt ist etwa der sozioökonomische Status oder das Elternhaus. Die spezifische Umwelt sind z. B. einzelne Freunde, Hobbies oder Aktivitäten, die die Zwillinge separat voneinander haben.

Das Fazit aus den Zwillingsuntersuchungen für die Potenzialfrage ist einerseits, dass genetische Faktoren einen hohen Anteil an der Gesamtvarianz der Populationsunterschiede haben. Die neue Erkenntnis ist jedoch, dass auf der Ebene konkreter Verhaltensweisen der genetische Einfluss viel geringer ist. Wenn die Frage Potenzial sich also auf grundlegende Persönlichkeitsfaktoren oder Intelligenz bezieht, dann kann man über die Erfassung des Ist-Niveaus das Potenzial gut vorhersagen. Wenn jedoch Potenzial die Eignung für konkrete zukünftige Jobanforderungen bedeutet, dann müssen die Potenzialfaktoren genauer betrachtet werden.

Lernpsychologie

Bis vor wenigen Jahren ist man davon ausgegangen, dass es sich beim Gehirn um ein relativ statisches Organ handelt. Seit der Entwicklung der bildgebenden Verfahren fängt man an zu erahnen, was im Gehirn wirklich vorgeht. Das Gehirn ist äußerst plastisch, dafür gibt es den Begriff der Neuroplastizität. Auf der untersten Betrachtungsebene ist Lernen die Veränderung der Stärke der synaptischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Für diese Erkenntnis hat im Jahr 2000 der New Yorker Psychiater Eric Kandel den Nobelpreis für Medizin erhalten. Seit wenigen Jahren weiß man, dass sogar komplett neue Nervenzellen wachsen. So haben etwa Londoner Taxifahrer ein größeres Hirnareal für die Repräsentation von Orten als normale Menschen. Wenn eine neue Fähigkeit erlernt wird, so geht dies in kleinen Schritten immer besser (Spitzer, 2007, S. 66f). Dieses Lernen geht allerdings langsam voran. Wer ein Profigeiger ist, hat mit zehn Jahren schon 1.000 Stunden Geige gespielt und mit 20 Jahren mehr als 20.000 Stunden. Amateurpianisten üben im Vergleich dazu deutlich weniger. Auch bei Fließbandarbeitern wurde nachgewiesen, dass durch Üben die Leistung langsam zunimmt, eine optimale Leistung erst bei 1-2 Millionen Übungssätzen erreicht ist. Erstaunlich ist andererseits, dass auch nach 1 Million Versuche immer noch Verbesserungen möglich sind.

Wie kann man diese Erkenntnisse auf das Lernen in der Berufswelt oder genauer im Führungshandeln übertragen? Ist die Führungsaufgabe eine komplexere Fragestellung als die Herstellung einer Zigarre? Selbst unterstellt, dass die unfertige Zigarre doch ein komplizierteres Objekt ist als ein Betrieb, dann wird deutlich, dass eine Personalfunktion nur sehr schwer vergleichbare tausende Übungsmöglichkeiten bereitstellen kann, damit ein annähernder Perfektionsgrad im Führungshandeln erreicht ist. Die Erkenntnis der Neuroplastizität belässt uns also die Freiheit zu lernen, aber unser Gehirn braucht die Anregungen aus vielen, vielen Erfahrungen.

Die Fähigkeit, das Lernen zu lernen

Ein anderer Ansatz wäre die Überlegung, dass Potenzial etwas ganz anderes ist, nämlich die Fähigkeit, sich neue Kompetenzen anzueignen. Dafür wurde der Begriff der Prozessdiagnostik eingeführt. Übertragen auf Managementpotenzial werden dabei im Rahmen von Assessment-Center-Verfahren einzelne Aufgaben wiederholt durchgeführt und die jeweiligen Veränderungen betrachtet. Relativ gute Prädiktoren für die Lerngewinne (Obermann, 1992) lagen in dem beruflichen Anspruchsniveau der Teilnehmer (erhoben in einem Interview im AC) und ihrer Führungsmotivation (Fragebogen). Aus den Validitätsuntersuchungen zu Lernpotenzialanalysen (Obermann, 1994) wird deutlich, dass diese Lerngewinne die Validität von klassischen ACs in der Vorhersage von Potenzial noch weiter erhöhen. Erkauft wird dieser Zusatznutzen allerdings durch einen relativ hohen Aufwand, der noch über das AC hinausgeht.

Die Methoden zur Erfassung der Potenziale

Potenzial bezieht sich auf das Leistungsniveau, welches ein Mitarbeiter aufgrund seiner grundlegenden Fähigkeiten zukünftig oder bei anderen Aufgaben einnehmen kann.

Das Assessment-Center bleibt die adäquate Methode, weil ohne Umwege das Verhalten in zukünftigen, potenzialrelevanten Situationen beobachtet werden kann. Die Erkenntnisse aus den Längsschnittstudien zeigen, dass generell betrachtet das gegenwärtige Niveau an Persönlichkeitsfaktoren ein sehr guter Prädikator für dieses zukünftige Niveau ist, somit Potenzial nahe am augenblicklichen Leistungsniveau liegt. Daher sind für die Potenzialfrage die bekannten Persönlichkeitsdispositionen zu betrachten, die auch den Rahmen für unsere Leistungsfähigkeit darstellen: Kognitive Fähigkeiten, Belastbarkeit, Extraversion, Offenheit und Gewissenhaftigkeit/Leistungsmotivation. Gleichzeitig ist Potenzial eine – individuell verschieden – ausgeprägte Fähigkeit, das jeweilige Leistungsniveau weiterentwickeln zu können. Hier ist die Frage, ob die Unternehmen den Aufwand fahren wollen, diejenigen zu erkennen, die aus ihrem Korridor ausbrechen können und lernfähiger sind als andere. Die neue Zwillingsforschung legt nahe, dass wir insbesondere bei speziellen Fähigkeiten, unterhalb der dominierenden Persönlichkeitsfaktoren, weniger abhängig von unseren Genen sind. Dieser Teilaspekt von Potenzial, die Fähigkeit zu lernen, kann am besten über Lernpotenzialanalysen ermittelt werden.

Das Thema Online Potenzialanalyse ist nicht erst seit der Coronakrise in der Personalauswahl und -entwicklung angekommen. Dennoch hat die Krise gezeigt, dass digitale Personalauswahlprozesse – allen voran in Form von Online Assessments und Potenzialanalysen – zunehmend unverzichtbarer werden.

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