Teil 2 – US-amerikanische Ursprünge
Die deutsche Heerespsychologie der Wehrmacht war Ideengeber für den Vorläufer des AC. In den USA gab es jedoch parallele Vorläufer. Ein wichtiger Name ist Henry Murray, der in den 30er Jahren Direktor der psychologischen Klinik in Harvard war. Murray entwickelte beispielsweise den projektiven Test TAT und fertigte u. a. 1943 für den damaligen US-Geheimdienst ein psychologisches Gutachten über Hitler an. In der Schweiz traf Murray auch C.G. Jung. Murray stand im Gegensatz zu Jung, der die Messung von einzelnen Persönlichkeitseigenschaften erforschte, für einen ganzheitlichen Ansatzes. Seine Beiträge für das Assessment Center sind vielfältig: die Idee der Aufgabensimulation, das strukturierte Vorgehen in der Beurteilung von Kandidaten und der Ansatz des Mehraugenprinzips. Durch seinen Mediziner-Hintergrund war er es gewohnt, Patientenfälle im Rahmen der kollegialen Beratung mit anderen zu diskutieren. Möglicherweise ist er daher der Autor der „Beobachterkonferenz“ und des klinisch-qualitativen Vorgehens in der Bewertung von Kandidaten.
Ein weiterer Ideengeber war Moreno, der Begründer des Psychodramas und damit der Methode des „Rollentauschs“ als psychologischer Intervention. Dies war wiederum die Grundlage für die Methode Rollenspiel.
Erste AC für die Auswahl von Geheimdienstagenten
Die Geburtsstunde des Assessment Center außerhalb der wirtschaftlichen Anwendung war in den USA im Rahmen der Auswahl von potentiellen Geheimdienstagenten. Hier ging es um Agenten für die Kriegsgebiete der USA in Europa und Südostasien. Der Ausgangspunkt war der Überfall der japanischen Armee auf Pearl Harbour. Unter der Leitung von Donovan entstand dazu 1942 das „Office of Strategic Services“ (OSS), das ab 1943 in Washington („Station S“) beheimatet war und der Vorläufer des CIA war. Maßgeblichen Einfluss auf die Arbeit der OSS nahmen zahlreiche Psychologen aus der Wissenschaft. Insbesondere Murray beendete seine Tätigkeit in Harvard und arbeitete bei dem OSS. Ihm wird auch die Einführung des Terminus „Assessment Center“ zugeschrieben wird.
Als Bausteine kamen im AC des OSS standardisierte Tests, projektive Verfahren, Einzel- und Gruppenaufgaben (teilweise mit Rollenvorgaben), ein biografischer, ein soziometrischer und ein Gesundheits-Fragebogen zum Einsatz, sowie die Simulation einer Belastungssituation.
Dabei wies dieses frühe AC bereits alle wichtigen Charakteristika eines heutigen AC auf: „die Anforderungsanalyse, das Ermitteln kritischer Determinanten von Erfolg und Misserfolg, die Entwicklung einer spezifischen Beurteilungsskala für jedes entscheidende Charakteristikum, den Entwurf von Maßen für diese Charakteristika und den Einsatz von Beobachtern zur Beurteilung der Kandidaten im Hinblick auf die spezielle Position“ (Jaffee & Cohen 1980).
Gegenüber den Vorläufern der deutschen Heerespsychologie kam im Assessment des OSS auch erstmals die Methode des Rollenspiels zum Einsatz. Ein Anwendungsbeispiel war ein Rollenspiel, in dem zwei Kandidaten gegeneinander antreten: Kandidat eins möchte Mitglied eines exklusiven Clubs in der Stadt werden, Kandidat zwei ist der Clubbesitzer, der Gerüchte gehört hat, dass der erste Kandidat in anderen Clubs ausgeschlossen wurde.
Bekannt wurde das AC des OSS mit der Buchveröffentlichung „Assessment of Men“ im Jahr 1948. Für den Geheimdiensthintergrund bezeichnend trägt das Buch keine Namen einzelner Autoren, Herausgeber ist das Team des OSS („OSS Assessment Staff“). Das Buch beschreibt im Detail die angewendete Auswahlmethodik und dürfte das erste Werk zum AC sein, wobei der Begriff „Center“ hier noch nicht verwendet wurde.
Die Geburt des industriellen Assessment Center
Anfang der 50er des letzten Jahrhunderts las ein gewisser Dough Bray das Buch „Assessment of Men“ und war sofort begeistert von der Idee und wollte diese auf die Wirtschaft übertragen. Dies sollte allerdings noch etwas dauern. Er bekam von der damals staatlichen „American Telephone and Telegraph Company“ (AT&T) im Jahr 1956 den Auftrag zu einer wissenschaftlichen Untersuchung über die Entwicklung von Management-Karrieren („Management Progress Studies“). AT&T war zu dieser Zeit das größte Unternehmen weltweit. Die Zielsetzung seines Auftrags war es, die Karrierewege von Managern zu verfolgen. Es war von Interesse zu analysieren, wie sich Fertigkeiten und Kompetenzen über die Zeit entwickeln würden und vorherzusagen, wer sich wohl später zum Manager entwickeln wird. Dazu wurde von ihm ein 3,5-tägiges Programm zusammengestellt, das noch nicht den Namen „Assessment Center“ trug und auch nicht das Ziel von Selektion oder Potenzialanalyse hatte. Im Unterschied zu den heutigen AC enthielt dieses Programm eine Vielzahl von Aufgaben. So sollten die Teilnehmer etwa Essays verfassen oder projektive Tests bearbeiten.
Bray konzipierte in diesem Zusammenhang den ersten Postkorb und die erste Gruppendiskussion im Kontext eines Wirtschaftsunternehmens. Dieses Programm hatte einen reinen Forschungscharakter. Trotz des späteren Drucks durch das Management von AT&T sind daher die individuellen Ergebnisse bis heute weder den Teilnehmern, noch deren Vorgesetzten oder dem damaligen Auftraggeber bekannt und werden immer noch aufbewahrt. Nachdem AT&T jedoch Gefallen an der Methodik fand, wurde Dough Bray gebeten, diese Methode auch auf die interne Potenzialanalyse von zukünftigen Managern zu übertragen. Dies war dann 1958 die Geburtsstunde des Assessment Centers.
In den „Management Progress Studies“ wurden die Unterlagen der AC-Kandidaten nach sieben Jahren wieder hervorgeholt und dann ermittelt, was aus diesen Personen mittlerweile geworden ist. Das Ergebnis war, dass mit dem AC zu einem hohen Maße vorhergesagt werden kann, wer viele Jahre später in Management-Positionen aufsteigen wird. Mit dieser ersten erfolgreichen Validitätsanalyse wurde die Legimitation des Assessment Centers zur Vorhersage von Führungserfolg gelegt
1968 gründete Bray dann neben seiner Tätigkeit bei AT&T ein Beratungsunternehmen und verhalf der Methodik dann zur späteren Popularität. Die Witwe des 2006 verstorbenen Dough Bray, Ann Howard, ist noch immer in der AC-Forschung tätig und Hüterin der Unterlagen.